Plädoyer für mehr bilinguale Schulen und Kitas
Wie ergeht es mehrsprachigen Kindern in Deutschland und welche Bildungsangebote gehen auf ihre Situation ein? Im Sprachennetz-Interview bezieht Dr. Anja Leist-Villis Stellung zur aktuellen Lage. Die Pädagogin aus Bonn bietet Fort- und Weiterbildungen zu frühkindlicher Zweisprachigkeit an, verfasst Bücher zum Thema und verantwortet die Webseite zweisprachigkeit.net.
Mehrsprachig aufwachsen – für Kinder in Deutschland kein Problem, oder doch?
Das hängt sehr davon ab, um welche Sprache es sich handelt. Es ist kein Problem, wenn es sich dabei um angesehene Sprachen wie Englisch oder Französisch handelt. Bei gesellschaftlich weniger anerkannten Sprachen wie Türkisch, Griechisch oder Arabisch, gibt es allerdings oft Vorbehalte. Kinder bekommen negative Einstellungen zu ihrer Erstsprache zu spüren und es passiert ihnen, dass sie diese Sprache in Bildungseinrichtungen nicht sprechen dürfen, wenn zum Beispiel in der Kita gesagt wird: „Wir sprechen hier nur Deutsch.“ Es gibt auch eine Vielzahl von Schulen, in denen etwa türkischstämmige Kinder und Jugendliche kein Türkisch auf dem Pausenhof sprechen dürfen.
Wenn zweisprachig aufwachsende Kinder Glück haben, dann können sie beide Sprachen im Alltag anwenden und ihre Sprachfertigkeiten ausbauen. Denn generell gilt: Mehrsprachigkeit ist für gesunde Kinder kein Problem. Ihr Gehirn ist darauf ausgelegt, mit zwei oder drei Sprachen aufwachsen zu können. Die Probleme werden durch schlechte Rahmenbedingungen geschaffen, also fehlende Angebote zur Sprachentwicklung und negative Vorurteile.
Wieviele Kinder in Deutschland wachsen mehrsprachig auf und nimmt ihre Anzahl zu?
Es liegen keine statistischen Angaben zur Gesamtzahl vor. Was wir laut Statistischem Bundesamt wissen: 2014 wuchsen zwölf Prozent aller Kinder unter 18 Jahren in binationalen Familien auf. Diese wachsen in der Regel mit zwei Sprachen auf. Und bei den unter 6-Jährigen stammten demnach 2014 etwa 26 Prozent der Kinder aus binationalen und nichtdeutschen Familien.
Da die Anzahl binationaler Familien in den letzten Jahren im Zuge des gemeinsamen EU-Binnenmarktes zugenommen hat und durch die Krise im Nahen Osten vermehrt geflüchtete Familien nach Deutschland kommen, wächst auch die Zahl der Kinder, die nicht nur mit Deutsch, sondern mit mindestens einer weiteren Sprache hier groß werden.
Mit welchen Angeboten reagiert die Bildungslandschaft in Deutschland auf diese Entwicklung?
Sie reagiert nicht ausreichernd. Es gibt nicht genügend Angebote, mit denen diese Kinder in ihren Muttersprachen gefördert werden. Ideal wären wesentlich mehr bilinguale Schulen und Kindergärten für verschiedenste Sprachen. Solche Einrichtungen gibt es aber nur punktuell in Großstädten. Der Kita-Bereich ist dabei genauso wichtig wie schulische Einrichtungen, weil Kinder hier den Erstkontakt mit dem Bildungssystem haben. Es gibt dort zwar gute Ansätze, aber die sind oft projektbezogen und nicht nachhaltig. Und die Konzepte an den wenigen bilingualen Kindergärten sind nicht evaluiert. Die Erzieherinnen gestalten die Förderung individuell.
Gefördert und angeboten werden generell vor allem Sprachen mit hohem Prestige, wie Englisch oder Französisch. Dieser Zustand ist nicht akzeptabel, weil die meisten mehrsprachigen Kinder eine andere Muttersprache haben. Sie bekommen keine Möglichkeit, ihr Italienisch, Türkisch oder Griechisch systematisch weiterzubilden. Da diese Sprachen in der Regel nicht angeboten werden, erfahren die meisten betroffenen Jungen und Mädchen einen Bruch in der Kontinuität der Sprachentwicklung der nicht angebotenen Muttersprache und einen Bruch in ihrer Entwicklung insgesamt. Denn die kindlichen Erfahrungen und Entwicklungsschritte sind an Sprache gekoppelt. Die nicht geförderte Erstsprache kann sich nicht angemessen weiterentwickeln und im schlimmsten Fall verkümmern.
Die Bildungspolitik macht es sich zu einfach, indem sie es den Eltern überlässt, sich um die Förderung der nicht weiter geförderten Erstsprache zu kümmern. In Nordrhein-Westfalen steht zwar im Kinderbildungsgesetz, dass Mehrsprachigkeit in den Kitas gefördert werden soll, es fehlen aber Hinweise zu der konkreten Umsetzung in der Praxis.
Welche Bedeutung messen sie Sprachen im Zusammenhang mit der Inklusion im Bildungssystem bei?
Da alle Kinder im Bildungssystem inkludiert sein sollen, würde dies auch bedeuten, dass sich mehr Muttersprachen in Kindergärten und Schulen wiederfinden müssten, um die Kinder auch sprachlich auf der Entwicklungsebene abzuholen, wo sie sind und sie entsprechend fachgerecht zu fördern. Angebote in Englisch helfen aber dem Spanisch sprechenden Fünfjährigen in seiner muttersprachlichen Entwicklung kein Stück weiter. Mehrsprachige Kinder erleben Immersion jeden Tag, in dem sie in hiesigen Bildungseinrichtungen in die deutsche Sprache eintauchen. Es ist natürlich gleichzeitig gut und wichtig, dass sie Deutsch lernen.
Was raten Sie junge Leuten, die sich für die Arbeit mit mehrsprachigen Kinder interessieren? Welche Ausbildungen und beruflichen Tätigkeiten wären eine Option und welche Voraussetzungen sollten die Kandidaten mitbringen?
Ich empfehle ihnen eine Erzieher-Ausbildung an einer Ausbildungsstätte, an der auch der Umgang mit Bilingualität gelehrt wird. Das ist leider noch keine Selbstverständlichkeit. Auch im Lehramtsstudium werden diese Fähigkeiten nicht immer vermittelt. Das passiert vor allem im Fach „Deutsch als Zweitsprache“, das es inzwischen an vielen Universitäten gibt.
Bewerber, die selbst zwei- oder mehrsprachig aufgewachsen sind, bringen eigene Erfahrungen mit dem Thema und Kompetenzen in mehreren Sprachen mit. Das ist sicher ein Vorteil, aber nicht zwingend erforderlich für eine solche Tätigkeit. Momentan haben wir einen Mangel an Pädagogen und Erziehern, die diesen Erfahrungshintergrund mitbringen. Die meisten wissen einfach zu wenig über zweisprachige Entwicklung und Erziehung. Ich hoffe, dass sich die Ausbildungen für Erzieher und Lehrer in dieser Hinsicht verbessern.
Eine Übersicht über bilinguale Kindergärten und Schulen in einigen deutschen Großstädten bietet die Webseite mundoazul.de/bilinguale-kitas-schulen. Auch auf der EXPOLINGUA 2016 am 18./19. November in Berlin stehen der (Fremd-)Spracherwerb (vom frühkindlichen Bereich bis hin zu Senioren), Mehrsprachigkeit und integrative Bildungsangebote auf der Agenda. Fachleute, die einen thematisch passenden Vortrag oder einen Workshop auf der EXPOLINGUA halten möchten, sind hiermit dazu aufgerufen, ihre Vorschläge einzureichen!
Hallo aus Namibia!
Gern lese ich Ihre Infobriefe! Haben Sie einen Link, wo ich mir die neusten / besten Materialien anschauen kann, die es in diesem Zusammenhang gibt?
Meine Enkel (3 und 5) wachsen hier in Namibia in einer Deutsch sprechenden Familie auf und sind sehr fit, was Sprache ueberhaupt betrifft. Toll waere es, wenn Unterrichtsmaterialien fuer Kiga Kinder online zur Verfuegung stehen wuerden. Leider spielen die Kosten in meinem Falle eine Rolle, bei einem Wechselkurs €:N$ von 1:16+.
Ich freue mich auf Antwort von Ihnen!
Herzlichst Anka Ellinger
Guten Tag Frau Ellinger,
ein guter Ansprechpartner für Deutschlerner im Ausland ist immer das Goethe-Institut, das auch in Namibia, in Windhoek, eine Außenstelle hat. Hier können Sie bzw. Ihre Enkelkinder kostenlos Deutsch üben.
Außerdem können wir Ihnen die Materialien unseres langjährigen Ausstellers auf der EXPOLINGUA empfehlen. Die Deutsche Welle hat einen Audio-Trainer, der interessant sein könnte, aber leider nicht speziell für Kinder ist.
Wir hoffen, dass wir Ihnen weiterhelfen konnten.