Geliebte Muttersprache oder Sprachpurismus: Isländisch
„Zahlenwahrsagerin“ oder „Rechenhexe“, so nennen die Isländer eine Maschine, die Zahlen und Daten ausgibt. Auf gut Deutsch, Spanisch, Polnisch und in vielen anderen europäischen Sprachen heißt solch ein Gerät schlicht „Computer“ – auf Isländisch aber „tölva“. Bildhafte Ausdrücke, über die Deutsch-Muttersprachler meist in Gedichten, Romanen, Märchen und in der Jugendsprache stolpern, hält die isländische Standardsprache zuhauf bereit. Denn die Isländer bemühen sich, ihre Sprache frei von Fremdwörtern und Entlehnungen aus anderen Sprachen zu halten.
Tiefe Verbundenheit mit dem eigenen Land
„Meine Gastmutter lebte in ihrer Jugend ein Jahr in Deutschland. Sie erzählte mir einmal, dass sie bei der Rückkehr nach Island zuerst die Bäume umarmte. Die Isländer lieben ihr Land und seine Natur. Ich denke, diese Liebe zum Land drücken sie über die Pflege ihrer Sprache aus.“ Bettina Kourde verbrachte nach ihrem Abitur 1999 ein Jahr als Au-pair auf Island. Bis heute steht sie mit ihrer damaligen Gastfamilie in Verbindung und reist nach Island. „Die Isländer lieben ihre Insel wahrscheinlich so sehr, weil die Lebensbedingungen dort über Jahrhunderte hart waren. Dieser Kampf ums Überleben schweißte die Menschen mit der Natur zusammen.“ Das raue Klima und ein Boden, der wenig Möglichkeiten zu ausgefeiltem Ackerbau bot, hielten die Isländer lange in Armut und Bescheidenheit. Wohlstand erfuhr das Land erst ab der Mitte des letzten Jahrhunderts. Fischfang und erneuerbare Energien sind die Bereiche, von denen Island heute wirtschaftlich lebt.
Isländisch: bis heute nah am Altnordischen
Im 9. Jahrhundert begannen Wikinger von Norwegen sowie vom Westen Schottlands und Irlands aus, Island zu besiedeln. Damit setzt auch die Geschichte des heutigen Isländisch und seiner Erzähltraditionen, wie den mittelalterlichen Isländersagas ein. Die Vorstufe des Isländischen und anderer skandinavischer Sprachen ist das Altnordische. Doch während sich Schwedisch und Dänisch vom Altnordischen über die Jahrhunderte zunehmend entfernten, ähnelt das Isländische jener historischen Sprachstufe noch stark – und dies in morphologischer Hinsicht: Substantive und Verben werden häufig noch genauso gebeugt wie im Altnordischen. Mit der Folge, dass Isländisch für Nicht-Muttersprachler zu Beginn eine Herausforderung ist: „Man muss sehr auf die richtigen Endungen achten. Isländisch kam mir damals kurz nach der Schule wie eine abgespeckte Form des Latein vor,“ meint Bettina Kourde. Und mit der weiteren kuriosen Folge, dass mancher wachsame und konzentrierte Isländer auch ohne sprachgeschichtliche Vorbildung Texte aus längst vergangenen Zeiten selbst im 21. Jahrhundert noch verstehen kann. Germanistik-Studenten, die sich bei Studienbeginn ins Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche einarbeiten müssen, mag das erstaunen. Auch Bettina Kourde verschafften ihre Isländisch-Kenntnisse einige Aha-Erlebnisse. Nach mehrjähriger Arbeit als Logopädin studiert sie heute Französisch und Englisch auf Lehramt an der Universität Würzburg. Das Englische war früh von den skandinavischen Sprachen beeinflusst: „Als ich ein Seminar zu Altenglisch besuchte, habe ich zahlreiche Wörter entdeckt, die ich aus dem Isländischen kenne, auch Schriftzeichen, die noch heute im Isländischen gebräuchlich sind.“
Während das Isländische im Wortbau recht archaisch blieb, änderte sich allerdings der Vokalismus: Ihre Klangfarbe ergibt sich durch den Wortakzent. Früher hingegen bestimmte die Dauer einer Silbe die Aussprache und den Klang.
Sprachpurismus und Fremdsprachenkompetenz verbinden sich
Sprachpurismus nennen Linguisten die Neigung, die eigene Sprache frei von Einflüssen anderer Sprachen zu halten. Viele Forscher stehen solchen Bestrebungen eher kritisch gegenüber, da sich Sprachen normalerweise im Laufe der Zeit durch verschiedene Einflüsse natürlich wandeln. In Island ist Sprachpurismus allerdings allgemein akzeptiert. Über die Reinheit des Isländischen wachte seit Mitte der 1960er Jahre offiziell das Isländische Sprachkomitee (Íslenzk málnefnd), das später in das Isländische Sprachinstitut umgewandelt wurde und vor wenigen Jahren mit anderen Instituten im Árni Magnússon Institute for Icelandic Studies (Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum) zusammenschmolz. Der Sprachpurismus in Island reicht jedoch bis in die Anfänge der Neuzeit zurück. Vor allem die Autoren der Zeitschrift Fjölnir im 19. Jahrhundert wollten das Isländische ihrem Verständnis nach rein halten. Jónas Hallgrímsson, einer der Autoren, schuf das Wort für die seinerzeit weltbewegende technische Neuerung: „Sími“ bedeutet so viel wie „Draht“ oder „Faden“ und meint ein Telefon.
Wie aber stehen die Bewohner eines Landes, das seine eigene Sprache hochhält und auch offiziell schützt, zu Fremdsprachen? „Die Isländer üben auf Ausländer keinen Druck aus, Isländisch zu lernen. Sie wissen, dass ihre Sprache für viele Nicht-Muttersprachler schwierig ist und sprechen gern Englisch mit Ausländern. Wenn aber jemand die Mühe auf sich nimmt, Isländisch zu lernen, freuen sich natürlich alle,“ erinnert sich Bettina Kourde. Filme und Serien laufen in Islands Fernsehen in der Originalversion. Die meisten der rund 320 000 Isländer beherrschen das Englische in der Regel gut, viele auch das Dänische, denn Island stand bis 1918 unter dänischer Krone. Isländische Künstlerinnen wie Emilíana Torrini nehmen mit großem Erfolg Platten auf Englisch auf – und nicht zu vergessen Björk.
Vielleicht ist es die Liebe zur Sprache in einem ganz weiten Sinne, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Isländer Muttersprache wie Fremdsprachen achten und sorgsam damit umgehen? Sprache ist Kulturträger und damit ein Teil der Identität jedes Menschen. Die Isländer mögen auszeichnen, dass sie sich dieser identitätsstiftenden Wirkung besonders bewusst sind und Sprache als Schöpfung betrachten. Und wer will ihnen die Kreativität absprechen? Eine „Zahlenwahrsagerin“ vermag mehr zu bezaubern als ein schlichter „Computer“.