Sprachen am Rand (Teil 4): Plattdeutsch

Deutsch ist nicht die einzige Muttersprache, die in Deutschland ihren Ursprung hat. Dazu kommen Sprachen von Bevölkerungsgruppen, die stark in der Minderheit sind, aber weiterhin gesprochen werden. Sprachennetz.org stellt einige dieser „Sprachen am Rand“ vor. Der vierte Teil widmet sich dem Plattdeutschen.

Ackerschnacker, Schietbüdel, Geldrutsmieter – Worte, die unwissende Leser und Hörer schnell zum Raten und Schmunzeln anregen können. Wir verdanken sie der vielfältigen plattdeutschen Sprache. Viele Begriffe „op platt“ werden in ihrer spezifischen Weise oft in bestimmten Regionen, speziell im ländlichen Raum, verwendet. So bezeichnet der Ackerschnacker in der Winsener Elbmarsch bei Hamburg ein Handy, der Schietbüdel ist vielen „Plattsnackers“ bekannt  als „kleiner Hosenscheißer“ und somit Kosewort für ein Kleinkind und der Geldrutsmieter meint den Bankautomaten.

Zahlreiche Wörter nutzen und verstehen auch alle Platt-Sprecher in gleicher Weise. „Wir können uns untereinander gut verständigen“, sagt Walter Marquardt aus Immenbeck bei Buxtehude. Der pensionierte Lehrer ist Experte für Niederdeutsch und engagiert sich in seiner Region für deren Erhalt und Kultur. „Ich kann hören, ob jemand aus dem Emsland oder aus Mecklenburg kommt, wenn er Plattdeutsch spricht“, so Marquardt.

Niederdeutsch oder Plattdeutsch ist eine westgermanische Sprache, die in Norddeutschland, im nördlichen Nordrhein-Westfalen und im Osten der Niederlande verbreitet ist und durch zahlreiche Dialektformen gekennzeichnet ist. Der Begriff Niederdeutsch ist geografisch abzuleiten als Bezeichnung einer Sprache, die in „niederen“, sprich nördlichen Landesteilen gesprochen wird. Das historische Sprachgebiet reichte von der Nordsee bis nach Estland.

Ins Hochdeutsche eingemeindet

Eine Menge niederdeutscher Begriffe, etwa Gedöns, Pinökel oder baff, haben längst Eingang in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch gefunden. Der NDR hilft Sprachhungrigen mit Lust „op platt“ zum Einstieg mit einem plattdeutschen Online-Wörterbuch.

Auf der Webseite des Instituts für Niederdeutsche Sprache (INS) in Bremen, das bis 2017 von den norddeutschen Bundesländern finanziert wird und wegen drohender Nicht-Weiterförderung um seine Zukunft bangt, finden sich viele Informationen und auch Kostproben in Ton und Bild.

Trotz Millionen Sprechern: „Platt“ droht auszusterben

Laut aktueller INS-Umfrage gibt es um die 2,6 Millionen gute oder sehr gute Platt-Sprecher in Deutschland. Dennoch ist das Niederdeutsche gefährdet: Seit 1984 habe sich die Zahl der Sprecher etwa halbiert, erklärte der damalige INS-Geschäftsführer Dr. Frerk Möller 2009 in einem Interview mit der „tageszeitung“. Seitdem hat sich die Zahl zwar stabilisiert, wie der INS-Leiter Dr. Reinhard Goltz berichtet, aber retten wird dieser Trend die Sprache wohl nicht.

Mit dem Rohrstock ausgetrieben

Walter Marquardt kennt den Grund für das drohende Aussterben. „Es liegt einfach am fehlenden Nachwuchs“, erklärt der 70-Jährige und blickt zurück: „Heute sprechen fast nur noch Leute über 60 Jahre Plattdeutsch. Nach 1945 war diese Sprache mit dem starken Zuzug von Heimatvertriebenen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten verpönt. Plattdeutsch galt vielen Lehrern und Gebildeten, denen das Plattdeutsche fremd war, als ‘primitive’ Sprache. Die ‘Ungebildeten’ im Dorf, in Handwerksbetrieben oder auch im Hamburger Hafen sprachen Platt miteinander. Das hatte zur Folge, dass den Kindern in der Schule die einheimische Sprache sogar mit dem Rohrstock ausgetrieben wurde, um es ein wenig überspitzt zu formulieren.“

Marquardt weiter: „Tatsächlich unterstellten viele Lehrer den plattdeutsch sprechenden Kindern, dass sie mit der Zweisprachigkeit nicht zurecht kommen würden. Genau diesen Aspekt sieht die moderne Pädagogik heute völlig anders. ‘Mindestens’ zweisprachig aufzuwachsen gilt als zeitgemäß und Investition in die Zukunft.“

Das gut gemeinte Anliegen, dass einheimische und zugezogene Schulkinder sich sprachlich verstehen und hochdeutsch verständigen sollten, wurde aus Marquardts Sicht auf Kosten des Niederdeutschen mit viel zu radikalen Methoden betrieben und führte bereits am Ende der 1950er Jahre zum Einbruch der plattdeutschen Sprache. „Es gibt mindestens zwei Generationen von Norddeutschen, die das Plattdeutsche selbst nicht mehr aktiv sprechen.“ Sie mögen zwar noch sehr viel verstehen, aber sich mit den Großeltern auf Plattdeutsch unterhalten, das können nur noch die wenigsten.

Je ländlicher, desto mehr „Platt“

Heute gelte die Faustformel: Je ländlicher die Region, desto mehr „Platt“ wird noch gesprochen, allerdings fast nur von Senioren. In jungen Familien ist das Plattdeutsche so gut wie tot. Daher glaubt Walter Marquardt nicht, dass Plattdeutsch langfristig noch zu retten ist. „Dafür müssten die Kinder die Sprache zu Hause sprechen und Plattdeutsch müsste als mindestens zweistündiges Regelfach an allen Schulen angeboten werden.“ Doch für solch ein Vorhaben fehlt es an geeigneten Lehrkräften.

Dennoch freut sich Marquardt über plattdeutsche Schullesewettbewerbe in den norddeutschen Ländern und darüber, dass Niederdeutsch – etwa an einigen Grundschulen in Hamburg – im Fach Deutsch unterrichtet wird. Ein Grund dafür: 1999 unterschrieb Deutschland die „Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen“, mit der die norddeutschen Bundesländer sich verpflichteten, Minderheitensprachen wie das Niederdeutsche vor dem Aussterben zu bewahren und ihren Gebrauch etwa in Schulen und Medien auszuweiten.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

© Walter Marquardt

Marquardt setzt sich selbst seit Jahrzehnten mit viel Elan für „Platt“ ein: In seiner Zeit als Gymnasiallehrer und Direktor des Gymnasiums in Tostedt (Landkreis Harburg) unterstützte er aktiv den plattdeutschen Lesewettbewerb. Als Pensionär leitet er heute den plattdeutschen Chor „Imbeeker Heckenrosen

Elvis auf Plattdeutsch 

„Unser Publikum ist zumeist über 60 und hat große Freude an unseren Liedern“, erzählt der engagierte Immenbecker. „Wir haben etwa 80 Lieder mit plattdeutschen Texten im Repertoire. Die Texte schreibe ich.“ Marquardt nimmt Songs von den Beatles, Elvis oder der Neuen Deutschen Welle und schreibt dazu plattdeutsche Texte. Die sind so geschrieben, dass sie auch Zuhörer aus Bayern oder Berlin verstehen können, wie der Chorleiter versichert.

Außerdem ist er im Einsatz für das “Nettwark Plattdüütsch in Buxthu”. Hier stehen etwa literarische Spaziergänge und Unterhaltungsabende auf Platt auf dem Programm, zum Beispiel am 3. September 2016 ab 15 Uhr auf dem Schiff „Margareta“ im Buxtehuder Hafen.

Marquardt versucht, „gute plattdeutsche Literatur“ unter die Leute zu bringen. Aufgeführt werden Theaterszenen, die Marquardt aus plattdeutschen Texten von Autoren wie Gorch Fock oder Johann Diedrich Bellmann zusammenstellt. Auch diese Stücke sind verständlich für unkundige Zuhörer. Wer glaubt, der Mann sei mit all diesen Aktivitäten ausgelastet, der irrt. Als ausgebildeter Lektor führt Marquardt überdies noch plattdeutsche Gottesdienste in seinem sprachlichen Heimatraum durch, gelegentlich auch gemeinsam mit seinem Chor.

Laut Marquardt gibt es viele kulturelle Aktivitäten, mit denen das Niederdeutsche lebendig gehalten wird, meist sind und bleiben diese jedoch lokalspezisch verankert. Bundesweite Bekanntheit erlangten aber auch einige: zum Beispiel das Hamburger Ohnsorg-Theater oder der ostfriesische Barde Hannes Flesner mit seinem „Bottermelk Tango“. Und wer plattdeutschen Hip-Hop-Versen lauschen möchte, dem seien „De fofftig Penns“ empfohlen.

Der NDR hat für Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern ebenso wie Radio Bremen täglichen „Platt“-Sendungen, die von einem Millionen-Publikum gehört werden.

Blütezeit als Sprache der Hanse

Weitaus stärkere Bedeutung hatte das Niederdeutsche in mittelalterlichen Hanse-Zeiten, wo es in Norddeutschland sowohl die wichtigste Sprechsprache, als auch eine bedeutende Schriftsprache war. Es wurde neben der Gelehrtensprache Latein in Gesetzestexten und Urkunden verwendet. Ende des 15. Jahrhunderts gab es zudem mehrere Bibel-Übersetzungen „op platt“ wie die Kölner Bibel oder die Lübecker Bibel.

Als Schriftsprache wurde das Plattdeutsche mit dem Niedergang der Hanse in Deutschlands Norden ab dem 16. Jahrhundert vom Hochdeutschen verdrängt. Es verlor an Prestige, die gebildeten Schichten wechselten ins Hochdeutsche, „Platt“ blieb Alltagssprache, vornehmlich auf dem Land.

Eine einheitliche Rechtschreibung gibt es nicht. Genutzt wird eine Schreibung, welche die Laute möglichst genau wiedergibt. Die meist genutzte niederdeutsche Rechtschreibung folgt den Regeln des plattdeutschen Wörterbuches „Der neue SASS“, das im Herbst 2016 in erweiterter Auflage mit 10.000 Stichwörtern im Wachholtz Verlag erscheint. Angelehnt ans Hochdeutsche, gelten diese Schreibregeln vor allem für nordniedersächsische Dialekte, für Hamburg, Schleswig-Holstein sowie das westliche Mecklenburg.

Keine zweite Lautverschiebung

Ein typisches Merkmal bis heute: Das Plattdeutsche hat die zweite, sprich hochdeutsche Lautverschiebung im 7. und 8. Jahrhundert nicht mit vollzogen. Diese führte zu veränderten Konsonanten (etwa von „p“ zu „f“ oder zu „ff“, wodurch „ship“ zum hochdeutschen „Schiff“ wurde). Da diese Lautverschiebung in anderen germanischen Sprachen ebenfalls nicht stattfand, ähneln viele niederdeutsche Wörter ihren Entsprechungen im Englischen, Friesischen, Niederländischen oder nordischen Sprachen.

Wie im Hochdeutschen haben Substantive drei Geschlechter (de Mann, de Fru, dat Kind). Bei manchen Begriffen ist das Geschlecht nicht eindeutig, etwa im Fall von de/dat Band (Schnur, Bindfaden) oder de/dat Schiet (Schmutz, Dreck). Der Satzbau weicht traditionell vom Hochdeutschen ab, wenn es zum Beispiel heißt „Mien Vadder sien Huus“ („Das Haus meines Vaters“).

Da Niederdeutsch mit seinen vielen Dialekten keine standardisierte Sprache ist, gibt es auch keine einheitlichen Grammatikregeln. „Es ist und bleibt ein Ärgernis, dass viele Platt-Publikationen nur einem sehr kleinen Leserkreis zugängig sind, weil die Autoren nicht bereit oder gar in der Lage sind, auf ihr spezielles örtliches Idiom zu verzichten“, findet Walter Marquardt. Er plädiert für eine stärkere Vereinheitlichung der Schriftsprache, um die potenzielle Leserschaft zu vergrößern.

Wer sich über plattdeutsche Grammatik schlau machen will, dem legt Marquardt die „SASS Plattdeutsche Grammatik A-Z“ ans Lektüreherz, erstellt von Heinrich Thies und von der Fehrs-Gilde im Wachholtz Verlag herausgegeben. Aus Marquardts Sicht wäre sie ein nützlicher Leitfaden auf dem Weg zu einer einheitlichen plattdeutschen Schriftsprache.