Überlegt springen – Studienkollegs bieten Abiturienten Zeit und Raum zur fachlichen Orientierung
„Unsere Dozenten fragen natürlich manchmal: Hast du Lust, zu dem Thema einen Vortrag zu halten? Niemand zwingt uns, doch meistens sind wir dazu bereit. Hier läuft es eben ohne Druck.“ Antonia Lux, 18 Jahre, zählt seit Herbst 2014 zu den rund 50 Kollegiaten am Aicher-Scholl-Kolleg im baden-württembergischen Ulm. Für ein Orientierungsjahr zwischen Abitur und Studienbeginn hat sie sich entschieden, um Gewissheit über ihre fachlichen Neigungen zu gewinnen: „Wir dürfen uns selbstbestimmt beruflich orientieren – das heißt, wir können uns im Kolleg auf die Fächer konzentrieren, die wir uns als Grundlage für unsere berufliche Zukunft vorstellen können.“
Bewusste Entscheidung als Ziel
Nach einem halben Jahr am Kolleg sieht Antonia bereits klarer: „Den Wunsch, Medizin zu studieren, hatte ich schon zu Schulzeiten. In der Zeit hier hat sich bestätigt, dass das zu mir passt. Außerdem habe ich eine Alternative entdeckt, für den Fall, dass ich keinen Studienplatz in Medizin erhalte: Ich kann mir auch vorstellen, Architektin oder Journalistin zu werden.“ Neben einem interdisziplinären Kursangebot erhalten die Kollegiaten des Aicher-Scholl-Kollegs regelmäßig Informationen zu konkreten Tätigkeiten: Vertreter unterschiedlicher Berufe und Branchen geben Einblick in ihre Laufbahn.
„Gap year“ lautet griffig die englische Bezeichnung für ein volles Jahr, das zwischen Ende des Schulbesuchs und Beginn der Ausbildung liegt. Zu einem „Gap year“ entscheiden sich weltweit bewusst viele junge Menschen und gestalten diese Zeit unterschiedlich. „Der Besuch eines Studienkollegs ist eine Möglichkeit neben anderen. Für manche mag es sinnvoll sein, nach dem Abitur sofort ins Ausland aufzubrechen oder einen sozialen Dienst zu übernehmen. Dabei kann sich die Berufsfrage natürlich auch klären“, sagt Andreas Lörcher, Leiter des Aicher-Scholl-Kollegs. „Allerdings gehen wir hier die Frage der Studienwahl aktiv an und überlassen sie nicht dem Zufall. Unsere Kollegiaten sollen am Ende des Jahres bei uns selbst die Entscheidung über ihr Studienfach treffen können und nicht etwa die Eltern oder andere Bezugspersonen für sich entscheiden lassen.“ Die Kollegs preisen also gerade nicht den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser an. Die Wahl des Studienfachs ist eine der wichtigsten und folgenreichsten Entscheidungen im Leben: Junge Menschen sollen nachdenken, bevor sie springen.
Gemeinsamkeiten und Schwerpunkte der Programme
2013 ging das Ulmer Aicher-Scholl-Kolleg in seinen ersten Jahrgang. In den Grundzügen ähnelt das Ulmer Curriculum dem Programm des Tübinger Leibniz Kollegs sowie dem Programm des ebenfalls 2013 gestarteten Salem Kollegs am Bodensee. Alle drei Einrichtungen bieten ihren Kollegiaten unterschiedliche Kurse in den drei großen Wissenschaftsdisziplinen an: den Geistes-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften. An allen drei Kollegs werden die Teilnehmer zudem ausführlicher und gezielter als in der Schule auf wissenschaftliches Arbeiten hin vorbereitet. Für ihre Dozenten sind wissenschaftliche Standards jenseits der Lehrtätigkeit oft Alltag: Die meisten Lehrkräfte der Kollegs arbeiten und forschen hauptberuflich an einer Hochschule oder Universität.
Zu den Gemeinsamkeiten gesellen sich die kleinen und feinen Unterschiede. Die Kollegiaten des Aicher-Scholl-Kollegs haben zusätzlich die Möglichkeit, sich vor allem in künstlerischen und gestalterischen Disziplinen auszuprobieren: Mode- und Produktdesign oder auch Film und Fotografie sind Teil das Kursangebots. Das Leibniz Kolleg wiederum erweist sich bis in die Gegenwart seinen Anfängen treu. Gegründet wurde es wenige Jahre nach Ende des Nationalsozialismus mit dem Ziel, die deutsche Gesellschaft demokratisch zu stärken. Kurse zu Angewandter Rhetorik, Gender Studies oder theologischer Ethik verweisen auf den Ursprungsgedanken. Am Salem Kolleg wiederum werden die Kollegiaten auf Führungsaufgaben vorbereitet. Im Projekt „Soziale Wirklichkeit“ etwa sollen sie lernen, gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen.
Fremdsprachen sind fester Bestandteil jedes Curriculums. Die Welt ist global organisiert: Studien- und Arbeitsaufenthalte im Ausland sind für die meisten der Kollegiaten wahrscheinlich. In ihrem Foundation Year Program – es ähnelt stark den genannten drei Kollegs – stellt die Bremer Jacobs University gar ausdrücklich Englisch in den Vordergrund. Ihre Kollegiaten sollen während des Orientierungsjahrs auf einen international konzipierten Studiengang vorbereitet werden, in dem in der Regel Englisch die Hauptsprache ist. Solche Studiengänge bietet die Jacobs University selbst durchgängig an, darauf basiert ihr übergreifendes Konzept. Doch auch zahlreiche andere Hochschulen in Deutschland und weiteren europäischen Ländern haben in den vergangenen Jahren englischsprachige Studiengänge entworfen und eingeführt.
Schwierige Wahl im Fächerwirrwarr
Wieso genau aber sind in der jüngeren Vergangenheit einige weitere Einrichtungen dem schon Jahrzehnte bestehenden Tübinger Beispiel gefolgt? Beim Ulmer Aicher-Scholl-Kolleg gingen die Verantwortlichen laut Andreas Lörcher einem Eindruck nach, der sich zu bestätigen scheint: Schulabgänger und oft auch die Eltern verspüren heute ein größeres Bedürfnis nach Überblick und Orientierung in Bildungsfragen. Das Ulmer Kolleg erfährt Zuspruch.
Das Salem Kolleg wird auf seiner Website deutlicher: Das Fächerangebot hat sich an Universitäten stark ausdifferenziert. Die Studienwahl ist heute angesichts eines Fächerdschungels objektiv schwieriger als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Eine gezielte und vertiefte Auseinandersetzung mit den Fragen „Was will ich studieren?“ und „Welches Studium ist sinnvoll?“ tut deshalb not. Die Studienkollegs weisen den Weg zu den Antworten: ausführlich, gründlich und für Kollegiaten wie Antonia Lux auf zufriedenstellende Weise.
Die genannten Einrichtungen informieren auf ihren Webseiten ausführlich über ihre Ausrichtung, Bewerbungsfristen und eventuell mögliche Stipendien: