Berufsbild: Übersetzer für die Europäische Kommission
„Der spannendste Ort ist die Kantine. Ich bin ja lange dabei, anfangs konnte ich alle Sprachen, die ich in der Mittagspause hörte, richtig zuordnen. Nun fällt es mir schwerer, zum Beispiel zwischen Slowakisch und Tschechisch zu unterscheiden. Einige der Kollegen wenden die Sprachverwirrung ins Produktive. Es gibt einen Deutsch-Tisch in der Kantine in Brüssel: Dort essen außer einigen Deutschen oder Österreichern viele andere Muttersprachler, aber alle sprechen während des Essens miteinander auf Deutsch.“ Seit 32 Jahren arbeitet Sabine Scheidemann für Einrichtungen der Europäischen Union. Über Stationen wie den Sitzungsdienst des EU-Parlaments in Straßburg gelangte sie als Übersetzerin zur deutschen Sprachabteilung in der Generaldirektion Übersetzung der Europäischen Kommission. Derzeit betreibt Sabine Scheidemann für einige Jahre Öffentlichkeitsarbeit in der Berliner Vertretung der Europäischen Kommission – und wirbt unter anderem für das aktuelle Auswahlverfahren für deutschsprachige Übersetzer.
Ein neu geschaffenes Babel
Mit rund 2.500 Mitarbeitern ist die Generaldirektion Übersetzung einer der größten und, wie Scheidemann betont, professionellsten Übersetzerdienste weltweit. In Brüssel und Luxemburg übersetzen Menschen aus den 28 EU-Staaten Rechtsvorschriften, Strategiepapiere, Artikel fürs Web und andere Texte in die 24 Amtssprachen der EU und bei Bedarf in Nicht-EU-Sprachen wie Russisch oder Chinesisch. Die Generaldirektion Übersetzung arbeitet ausschließlich für die Europäische Kommission, andere EU-Einrichtungen nutzen ihre eigenen Übersetzungsdienste. Grundlage dieser Arbeit ist die im Gründungsvertrag der EU verankerte Politik der Mehrsprachigkeit: Jeder Bürger hat das Recht, sich in der Amtssprache seiner Wahl an die Institutionen der EU zu wenden. Umgekehrt muss die EU mit ihren Bürgern in deren Sprache kommunizieren. Mehr als zwei Millionen Seiten wurden 2013 für die Europäische Kommission übersetzt: Die Generaldirektion Übersetzung übersetzte davon rund 74 Prozent und vergab 26 Prozent der Aufträge nach außen. Externe Übersetzungsdienste und Freiberufler kommen allerdings nur bei Texten zum Zug, die weder brisant und geheim, noch äußerst dringend sind.
Beeindruckend große Zahlen. Wer aber sind die Menschen, die in den Kantinen in Brüssel und Luxemburg täglich für eine babylonische Sprachverwirrung sorgen?
Übersetzer müssen lernfähig sein
„Für die Generaldirektion Übersetzung arbeiten wache und neugierige Menschen, die sich für unterschiedlichste Themen interessieren.“ Eine Einstellung, die sich Sabine Scheidemann auch von Bewerbern im aktuellen Auswahlverfahren wünscht: „Unsere Mitarbeiter brauchen Lernfähigkeit. Ein Übersetzer muss immer wieder bereit sein, neue Themen zu durchdringen, zu verstehen, sodass er Texte zu diesem Thema verständlich in die Zielsprache übertragen kann.“ Darüber hinaus sind die Fähigkeiten zu Selbstorganisation und gutem Zeitmanagement wesentlich: „Laufend gehen neue Aufträge unterschiedlicher Dringlichkeit ein, deren Abgabefristen ein Übersetzer einhalten muss,“ so Scheidemann. Stapeln sich Aufträge mit hoher Dringlichkeitsstufe, sind Flexibilität und Einsatzbereitschaft gefragt: „Während der Banken-Rettung im letzten Jahr etwa arbeiteten unsere Kollegen oft an den Wochenenden.“ Wochenendarbeit zu planen, ist für die Leiter der Referate in der Regel kein Problem, denn die Solidarität unter den Übersetzern ist groß, so Scheidemann.
Diese persönlichen Merkmale sind im Alltag entscheidend. Selbstverständlich müssen Bewerber auch einige formale Kriterien erfüllen: Nur EU-Staatsbürger mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium von mindestens drei Jahren können sich bewerben. Sie müssen keine Berufserfahrung nachweisen. Manche Bewerber haben Übersetzen studiert, andere im Beruf praktische Erfahrung darin gewonnen. Das Alter spielt keine Rolle.
Auswahlverfahren über mehrere Etappen
Wer sich als Mitarbeiter für die deutsche Sprachabteilung bewerben möchte, kann noch bis zum 5. August, 12 Uhr mittags ein persönliches Konto auf der Website der EPSO (European Personnel Selection Office) anlegen und dort Profil, Lebenslauf und Arbeitszeugnisse hinterlegen. Anschließend sollte der Bewerber sein EPSO-Konto wie einen „Briefkasten“ nutzen. Wer im Auswahlverfahren weiter vorrückt, erhält elektronisch Aufforderungen zur Teilnahme an der nächsten Stufe. Auf den ersten Schritt folgt ein computergestützter Test in einem Testcenter vor Ort. Dort zeigt man in Übungen zu Grammatik und Textverständnis seine Deutsch-Kenntnisse auf muttersprachlichem Niveau sowie die Kenntnisse in der ersten und zweiten Fremdsprache auf Niveau C1. Es folgen nach einigen Wochen ein weiterer Test zum Übersetzen und schließlich ein Assessment Center in Brüssel oder Luxemburg. Das Assessment Center absolvieren die Teilnehmer in ihrer je ersten Fremdsprache. Von Stufe zu Stufe verringert sich die Bewerberzahl.
Was gewinnen Bewerber, die sich in diesem langen, herausfordernden Auswahlverfahren durchsetzen? „Ein kulturell abwechslungsreiches Umfeld zum Arbeiten und Leben und die Möglichkeit, zu übersetzen, ohne die Lasten eines freiberuflichen Übersetzers wie Auftragsanwerbung selbst zu stemmen,“ betont Sabine Scheidemann. Sie ist überzeugt von der Arbeit für die EU: „Man gibt zwar die Nähe zu Verwandten und Freunden in der Heimat auf – doch das tut man auch, wenn man von Köln nach München zieht.“ Da die meisten Mitarbeiter der Generaldirektion Übersetzung als EU-Beamte einen sicheren Arbeitsplatz haben, ist die Fluktuation im Personalstamm nicht hoch: „Freundschaften kann man in Brüssel und Luxemburg ebenso schließen und über die Jahre pflegen wie im Heimatland.“
Interessierte erhalten weitere Informationen über die Facebook-Seite zum Auswahlverfahren – oder direkt bei Sabine Scheidemann. Am 31. Juli wird sie persönlich zur Bewerbung informieren, beim Einsteiger-Stammtisch des ADÜ Nord in Hamburg (Assoziierte Dolmetscher und Übersetzer in Norddeutschland e.V.).