Underground ist kein Tourismusunternehmen
Dieser Artikel erscheint in Medienpartnerschaft mit dem Deutsch-Chinesischen Kulturnetz www.de-cn.net. Martina Bölck berichtet von Filmschaffenden und der Vielfältigkeit der Independentszene in China.
Eines Tages erhielt der Kieler Independentfilmer Karsten Weber eine Email aus China. Sie kam von Ni Kun (倪昆), einem jungen Kurator der freien Filmszene, er lud Weber und seine Filmgruppe Chaos nach China ein. 2006 zogen sie als Blitzfilm zum ersten Mal mit einer bunten Mischung deutscher Filme durch Universitäten und Festivals. Weitere Reisen folgten. Die deutschen Filmemacher, die bis dahin nichts mit China zu tun hatten, waren überrascht von der Vielfältigkeit der Independentszene, vom Interesse des Publikums und von den Freiräumen jenseits der staatlichen Zensur. Ihr Chinabild geriet ins Wanken.
Diese Erfahrung wollte Weber weitergeben. Er lud Ni Kun und einige Filmemacher zum Gegenbesuch ein. In Hamburg war das Festival China Underground – Der kritische Blick von unten vom 16. bis 19. September im Rahmen der China Time 2010 zu sehen. Weitere Stationen sind Kiel, Husum und Heidelberg.
„China ist kein monolithischer Block“, betont Weber immer wieder. „Was wir in den Medien davon mitkriegen, ist nur ein kleiner Ausschnitt.“ Er möchte Dinge zeigen, „die nicht in dieses Bild passen“. Das Programm ist bunt gemischt: Spiel- und Dokumentarfilme, Kurzfilme, Fernsehdokumentationen und als Gag ein Klassiker von 1961, Die rote Frauenarmee, verfremdet durch elektronische Live-Musik. Der rote Faden des Festivals ist, chinesische Produktionen zu zeigen, die Ausdruck der Wechselwirkung zwischen Underground, offiziellen Medien und staatlicher Politik sind.
Zusammenwirken von Medien und Gesellschaft
Auch die staatlichen chinesischen Medien sind – schon aus ökonomischen Gründen – auf neue Themen angewiesen. Manche Fernsehanstalten drücken Laien Kameras in die Hand, diese durchstreifen dann die Stadt auf der Suche nach Sensationen, die sie später vielleicht dem Sender verkaufen können. Der Eröffnungsfilm Disorder von Huang Weikai (黄伟凯) zeigt einen Zusammenschnitt solcher Amateurfilme. Man sieht Autounfälle, überschwemmte Straßen, verhaftete Verbrecher, Kakerlaken in Restaurants … Diverse Ordnungshüter versuchen dem Chaos Herr zu werden, doch man hat nicht den Eindruck, dass es ihnen gelingt.
Es gebe zwar die staatliche Zensurbehörde, antwortet die Filmemacherin Wang Bang (王梆) auf die Frage nach Zensur, aber viele Independentfilme würden dort gar nicht erst vorgelegt. Selbst Filme, die durch die Zensur fielen, könnten auf unabhängigen Festivals und an Universitäten gezeigt werden. Sie hat sich mit University City Savages an ein heikles Thema gewagt: Der Film dokumentiert den Kampf von Bauern gegen die Zwangsenteignung und den Abriss ihres Dorfes, das einem Universitätsgelände weichen soll.
Welchen Einfluss die Medien auf solche Geschichten haben können, zeigt der Film The Nail von Jiang Zhi (蒋志): In der Innenstadt von Chongqing wehrt sich ein Ehepaar gegen den Abriss seines Hauses ohne angemessene Entschädigung. Das Bild vom Haus, einsam inmitten einer Baugrube, geht durch die Medien, die Hausbesitzer werden zu Stars und erhalten soviel Zuspruch aus der Bevölkerung, dass die Baufirma schließlich einlenken muss.
Andere Filme zeigen Schicksale hinter den Nachrichten: To Live is Better than to Die von Chen Weijun (陈为军) wurde in einem Dorf gedreht, in dem sich viele Bewohner, die durch Blutspenden etwas Geld verdienen wollten, durch unzureichende Hygienemaßnahmen mit HIV ansteckten. Der Film begleitet eine Familie, in der bis auf die älteste Tochter alle infiziert sind. Die Mutter ist bereits krank, sie stirbt noch während der Dreharbeiten. Der Vater kümmert sich liebevoll um die drei kleinen Kinder und bemüht sich, das alltägliche Leben aufrecht zu erhalten. Man sieht seine Freude über die ersten Schritte des kleinen Sohnes, wohl wissend, dass dieser das vierte Lebensjahr kaum erreichen wird.
Nach dem Erdbeben im Mai 2008 in Sichuan wurden schwere Vorwürfe gegen Kader erhoben, die an Baumaterialien für Schulen gespart und dadurch den Tod von tausenden Kindern verursacht haben sollen. Der Film Mayday von Ma Zhandong (马 占冬) zeigt ein Ehepaar, das seinen einzigen Sohn beim Einsturz einer Schule verlor. Nebenbei erfährt man viel darüber, mit welch enormem Improvisationstalent Menschen nach einer Katastrophe ihren Alltag wieder aufbauen.
Chinabilder zwischen Multikulti und sozialer Tristesse
Aus dem Rahmen fällt der Spielfilm The Rat Trap and the Rose von Wang Bang (王梆). In ruhigen Bildern lässt sie ein arriviertes französisches Paar mit Eheproblemen, ihr chinesisches Hausmädchen, das von einem Leben in den USA träumt, und einen illegalen Einwanderer aus dem Kongo aufeinander treffen. Ein neues multikulturelles China, in dem Ausländer nicht automatisch reich sind.
Weber will zeigen, wie kritisch und offen heutzutage in China Filme gemacht werden, „was für aufgeweckte und mutige Menschen es dort gibt“. Er hat ständig das Gefühl, sich rechtfertigen und erklären zu müssen. „Manche Leute reagieren richtig sauer, wenn man ihnen ihr Chinabild nimmt.“
Und doch ist das Bild, das die meisten Filme vermitteln, so neu nicht. Es ist ein China im Umbruch, mit einer schwierigen Vergangenheit und sozialen Problemen, desolat, mit Hochhäusern, Autobahnbrücken und entwurzelten Menschen. Bilder vom tristen Großstadtleben und den Verlierern des Aufschwungs kamen schon Anfang der Nuller Jahre in die deutschen Kinos, als eine neue Generation von Regisseuren damit die Festivals im Ausland eroberte.
„Warum zeigen Sie so viele negative Dinge von China?“, fragt eine Chinesin aus dem Publikum. „Weil sie wahr sind“, antwortet Ni Kun (倪昆). „Es gibt auch positive Dinge, die wahr sind“, versetzt sie.
Am Ende hat man den Eindruck, dass es in China eine interessante Gegenkultur gibt. Aber das China, von dem sie erzählen, ist nicht gerade einladend. Underground ist eben kein Tourismusunternehmen.
„Sie dürfen nicht vergessen“, sagt Ma Zhandong (马占冬), „dass die Filme, die Sie hier sehen, nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellen. Wenn Sie China wirklich kennen lernen wollen, sollten Sie hinfahren.“
Blitzfilm jedenfalls wird schon im November wieder nach China reisen, mit vielen neuen Filmen im Gepäck, um das Deutschlandbild der Chinesen durcheinander zu bringen.
Autorin, Hamburg
Oktober 2010
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Bildquellen:
Ausschnitt Plakat „China Underground“ © Blitzfilm
Im Foyer des Kinos: Von links nach rechts: Cheng Le (陈乐), Karsten Weber, Martina Stache, Sun Xiao Yun (孙晓筠), Hu Qing (胡晴), Ma Zhandong (马占冬), Ni Kun (倪昆), Foto: Martina Bölck
Plakat „China Underground“ © Blitzfilm