Italiensehnsucht kontra Deutschlandsehnsucht
“Haben die Deutschen etwa keine Klos?“ fragt Rosa ungehalten, als sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen die neue Bleibe besichtigt. Dürftig sieht diese aus, im grauen Ruhrpott ist die Familie gelandet, die Toilette ist vom Treppenhaus erreichbar. Der Himmel über Duisburg ist im Film meist grau und ähnelt kaum jenem gelb-blauen über der Heimatstadt Solino, die Rosa verlassen musste. Der Hamburger Fatih Akin, einer der deutschen Erfolgsregisseure und selbst Kind türkischer Einwanderer, drehte vor rund zehn Jahren einen Film über italienische Gastarbeiter. Die Heimat verließen die meisten in materieller Not, doch auch der Beginn in Deutschland war für viele entbehrungsreich.
„Italiensehnsucht“ ist ein fester Begriff unter Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern. Die gebildetsten Deutschen zog es über Jahrhunderte über die Alpen nach Süden. Sie wollten die Kunst der Antike und Neuzeit erleben und daran reifen. Der Deutschen bekanntester Dichter Goethe wurde so in gewisser Weise zum Vorbild aller späteren Italientouristen: 1789 brach er zu einer zwei Jahre dauernden Reise nach und durch Italien auf, die er zurück in Weimar in dem Text „Italienische Reise“ dokumentierte. Von einer damals umgekehrten „Deutschlandsehnsucht“ ist hingegen wenig bekannt.
Die Richtung kehrt sich um
Die Gegenbewegung von Süd nach Nord setzte im 20. Jahrhundert ein, allerdings aus anderen Motiven. 1955 unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland ihr erstes Anwerbeabkommen mit Italien: Die ersten Gastarbeiter der Nachkriegszeit kamen über die Alpen zu uns. Die folgende Arbeitsmigration veränderte Deutschland dauerhaft: Die meisten der Gastarbeiter aus verschiedenen Ländern kehrten zurück, 12 von insgesamt 14 Millionen. Jene, die blieben, wurden aber ein Teil der deutschen Gesellschaft.
Gastarbeiter-Abkommen der BRD
Für Italien war das Anwerbeabkommen mit der BRD das letzte in einer Reihe von Abkommen mit anderen europäischen Ländern. Vor allem Bewohner des ärmeren Südens sollten im wirtschaftlich reicheren Nordeuropa ein Auskommen finden. Deutschland wiederum ging erst nach dem Vertrag mit Italien vergleichbare Vereinbarungen mit Ländern wie Griechenland, der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien ein und nahm zunehmend mehr Gastarbeiter auf. Bis zum offiziell so genannten „Anwerbestop“ 1973: Deutschland wackelte wirtschaftlich, die Ölkrise verunsicherte Politiker und Unternehmer.
„Gastarbeiter“ ist im Grunde ein widersprüchliches Wort. Die Menschen waren keine Gäste im wahren Sinne, sie sollten ja arbeiten – das allerdings nur auf begrenzte Zeit. Zu Beginn galt das Rotationsprinzip: Nach einer gewissen Beschäftigungszeit bei einem deutschen Arbeitgeber sollte der Gastarbeiter zurück in seine Heimat, ein anderer sollte ihn ablösen. Aus Italien kamen ab 1955 rund vier Millionen Menschen nach Deutschland, rund 10 Prozent von ihnen blieben dauerhaft hier. Zum einen, weil den Firmen und Fabriken in Deutschland der ständige Wechsel allmählich gegen den Strich ging: Ein eingearbeiteter fleißiger Arbeiter sollte bleiben dürfen. Später auch, weil manche der Gastarbeiter tatsächlich in Deutschland ihre neue Heimat fanden.
Italienische Migranten und deutsch-italienische Integration heute
Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden spricht heute nicht mehr von Gastarbeitern, zunehmend seltener von Ausländern, immer häufiger aber von „Menschen mit Migrationshintergrund“. Rund 760.000 Menschen mit italienischem Migrationshintergrund lebten 2012 offiziell in Deutschland. Darunter sind die ehemaligen Gastarbeiter und ihre Nachfahren, neue Migranten aus Italien, Menschen, die ihren italienischen Pass behalten, und solche, welche die italienische Staatsbürgerschaft aufgegeben haben. Italiener sind nach Menschen aus Polen, der Russischen Föderation und der Türkei die größte europäische Migrationsgruppe in Deutschland. Die Einwanderung von Italien aus nach Deutschland hat in den letzten Jahren sogar wieder zugenommen.
„Mein Eindruck ist: Heute kommen andere Menschen als in den 1960er Jahren von Italien nach Deutschland. Es sind heute eher beruflich gut ausgebildete Menschen, oft Akademiker. Manche wollen hier weiter studieren, promovieren oder mit ihrer Qualifikation eine Arbeit finden,“ meint Sonja Thiele von der Deutsch-Italienischen Gesellschaft in Germering bei München. Die deutsch-Italienischen Gruppen und Vereine pflegen landesweit das Interesse für Italien. Darunter sind viele deutsche Italien-Liebhaber. Von den rund 220 Mitgliedern der Deutsch-Italienischen Gesellschaft Germering sind ungefähr 90 Prozent Deutsche und 10 Prozent Italiener bzw. Deutsche mit italienischen Wurzeln. Wenn sich das Verhältnis etwas verschiebe, würden sich alle freuen, so Thiele. Denn Ziele des Vereins sind Freundschaft und der lebendige Austausch mit Italien: „Vor kurzem wandte sich eine Deutsche an uns, die schon lange in Italien lebt. Ihr Sohn kommt für ein Praktikum in München, sie bat um Hilfe bei der Suche nach einer Bleibe für ihn. Wir konnten ihm eine Unterkunft bei einer deutschen Familie vermitteln, deren Sohn wiederum Italienisch lernt.“
Erste Anlaufstelle für Migranten, die neu in Deutschland sind, bleiben die öffentlichen Stellen für Integration und Migration. Doch wer Heimweh nach seinem Herkunftsland Italien verspürt oder wen die jahrhundertealte deutsche „Italiensehnsucht“ packt, hat an vielen Orten in Deutschland die Chance auf Kontakte mit Gleichgesinnten.
Weitere Film- und Literaturtipps zur deutsch-italienischen Integration:
- Der Dokumentarfilm „Monaco, Italia“ (2011) berichtet von italienischen Gastarbeitern in München.
- In seinem Roman „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ (2003) verarbeitete der Autor Jan Weiler auch eigene Erfahrungen als Schwiegersohn eines italienischen Gastarbeiters. 2009 kam die Verfilmung mit Christian Ulmen in der Hauptrolle in die Kinos.