Mauern überwinden: Chinesisch als Bildersprache lernen

http://www.dreamstime.com/royalty-free-stock-photos-language-written-chinese-image2017588ShaoLan Hsuehs Mutter brachte ihrer Tochter früh die chinesischen Schriftzeichen nahe – eine der „tragischsten Erinnerungen“ ihres Lebens, wie ShaoLan mit Ironie feststellt. Über 15 Jahre lang lernte ShaoLan in ihrer Heimat Taiwan die Zeichen einer schwierigen, doch an und für sich wunderschönen Sprache, Strich für Strich. Ihren Zuhörern präsentierte ShaoLan eine Methode zum Chinesisch lernen, die den Lernwilligen die Mühen ersparen soll, die sie selbst als Kind auf sich nehmen musste.

Schriftzeichen zu Bildern erweitern

ShaoLan rät dazu, grundlegende chinesische Schriftzeichen um zeichnerische Elemente zu ergänzen. So entsteht jeweils ein Bild, das eine Entsprechung zwischen der Gestalt der Schriftzeichen und ihrer Bedeutung aufzeigt. Wenn Form und Inhalt zusammen passen, können Sprachenlerner das Zeichen als Ganzes schneller erfassen und ins Gedächtnis aufnehmen.

Zu diesem Grundgedanken gesellt sich der zeitliche Aspekt. Tausend Zeichen reichen ShaoLan zufolge aus, um sich im Alltag einigermaßen fließend zu verständigen. Zweihundert der wichtigsten Zeichen genügen, um die Inhalte chinesischer Webseiten und Zeitungen zumindest grob zu erfassen. ShaoLan verfolgt deshalb mit ihrer Methode das Ziel, sich in recht kurzer Zeit knapp hundert chinesische Schriftzeichen anzueignen. In ihrer Präsentation geht sie von acht grundlegenden Zeichen aus, mittels derer man sich ihrer Schätzung nach rund 32 Schriftzeichen aneignen kann. Denn viele der chinesischen Schriftzeichen setzen sich aus mehreren anderen zusammen. Wer den Achter-Schritt dreimal vollzieht, landet ungefähr bei hundert.

Einige Folgebegriffe kann man sich beispielsweise über das chinesische Zeichen für „Person“ erschließen. „Person“ schreibt sich im Chinesischen wie folgt: zwei Striche, die gemeinsam beginnen, in einem leichten Bogen nach unten wandern und sich dabei  in entgegengesetzte Richtungen teilen. Man kann sich beide Striche gut als Beine vorstellen, vor allem dann, wenn man sich an der gemeinsamen Spitze einen kleinen runden Kopf hinzudenkt – so zeigt es ShaoLan in einer simplen Zeichnung. Zwei Zeichen für „Person“ aneinandergereiht ergeben im Chinesischen ein neues Wort, das Verb „folgen“: ShaoLan zufolge gehen dabei zwei Personen hintereinander her. Und dreimal „Person“ ergibt dementsprechend eine „Menge“ an Menschen.

Visuelle Eselsbrücken versus Sprachwissenschaft

ShaoLan gründet ihre Methode also auf Eselsbrücken, nicht nur auf gedanklichen, sondern – wie es der Besonderheit des Chinesischen angemessen ist – vor allem  auf visuellen. Wer eine neue Sprache lernt, braucht häufig solche praktischen Hilfen und Wege, um sich die fremd klingenden und aussehenden Vokabeln anzueignen. Sprachwissenschaftler allerdings dürften bei ShaoLans Präsentation aufhorchen. Denn ShaoLans Methode spielt auf eine Disziplin der Sprachwissenschaft an, die vor rund einem Jahrhundert aufkam, und läuft dieser Disziplin dabei  auch in einem wichtigen Punkt auffallend entgegen.

Die Semiotik geht von der Zeichenhaftigkeit jeder Sprache aus. Jedes sprachliche Zeichen besteht aus einem Zeichenausdruck und einem Zeicheninhalt. Zeichenausdruck meint die äußere Seite, will sagen: das Wort an und für sich, als eine Folge von Buchstaben oder – wie im Falle des Chinesischen – als eine Anordnung zeichnerischer Elemente. Der Zeicheninhalt hingegen meint die Bedeutung, die die Sprecher dieser äußeren Hülle zuschreiben. Die Semiotik geht davon aus, dass Zeichenausdruck und Zeicheninhalt völlig willkürlich miteinander verbunden sind und lediglich auf einer Abmachung beruhen. Die innere Logik fehlt, wie manche Sprachlerner spontan urteilen würden. Der Baum heißt in der Sprache eben „Baum“ und könnte genauso gut „Brot“, „Wasser“ oder „Sonne“ heißen. Doch eine Idee, die innerhalb der Wissenschaft neue Erkenntnisse und gedankliche Wege auftut, bewährt sich nicht zwangsläufig in der Praxis: Fremdsprachenlerner brauchen gedankliche Stützen.

ShaoLan präsentierte ihre Methode im Frühjahr 2013 bei einer Veranstaltung von TED in Kalifornien. Die Macher von TED lassen bei Konferenzen und auf ihren Webportalen Menschen zu Wort kommen, die eine Idee knapp und verständlich darstellen. Den Weg zum Lernen von hundert chinesischen Schriftzeichen stellte ShaoLan in fünf Minuten dar. Sie wollte in dieser kurzen Zeit eine Mauer überwinden, die der tatsächlichen berühmten Chinesischen Mauer ähnelt: den schwierigen Einstieg in eine „unglaubliche Sprache“.